Im Hörsaal zeigt sich das europäische Philosophieren jederzeit mündlich und beweglich. Viele pilgerten zwischen 1970 und 1984 nach Paris, wo Michel Foucault dreizehn umfangreiche Vorlesungen hielt. Sein Publikum erstaunte vor dem Wechsel an Themen, Texten und Bildern. Foucault sprach über Machtverhältnisse, Strafregime und diskursive Ordnungen, er thematisierte die Sexualität, das Wahrsagen und wie gut zu leben sei. Seine Anekdoten und Geschichten faszinieren noch in den gedruckten Transkriptionen aller 150 Vorlesungsstunden. Der Essay »Foucault im Hörsaal« versucht den Nachvollzug des mündlichen Foucault und testet den Zusammenhang der mündlich vorgetragenen Gedankenentwicklung. Warum taucht dort - und nur dort - die Figur des Ödipus auf? Es gibt viele rote Fäden im Vortrag Foucaults, der explizit experimentierend ist und sich vom Charakter seiner Bücher deutlich absetzt. Foucault hat Vorlesungen eher wie politische Interventionen als lebhafte Ansprachen gestaltet; er adressiert seine Zuhörer als Zeitgenossen mit offenem Erwartungshorizont.
Ulrich Johannes Schneider lehrt Philosophie am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig und hat seit seinem Studium in Paris 1980 kontinuierlich über Foucault publiziert. Siehe auch: www.ujschneider.de.