Dina blickte durchs Fenster. Jäher Schreck zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Sie warf sich herum und hämmerte wie wild gegen die Scheibe. »Umkehren«, schrie sie. »Du sollst umkehren!« Doch die Kutsche fuhr unbekümmert weiter. Der Kutscher schien nichts gehört zu haben. »Dina, was hast du denn? Warum regst du dich so auf?« fragte Nathalie verstört. »Zu spät!« Dina sank auf den Sitz zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Die Todesschlucht«, stammelte sie. »Ich will sie nicht sehen. Der Abgrund, die Kutsche - es war schon dunkel, und sie verfehlte den Weg. Man hat nur noch Trümmer gefunden.« Sie ließ die Hände sinken und starrte Nathalie aus geweiteten, angsterfüllten Augen an. »Nath, sag mir, spürt man etwas, wenn man in einen Abgrund stürzt? Spürt man den Schmerz? Wie lange dauert es, bis man nichts mehr fühlt? Minuten oder Sekunden?« Felsbrocken säumten den Weg, und plötzlich wuchs ein dunkles Holzkreuz auf. Einen Moment lang sah man weißschimmernde Steine halb von wildem Gestrüpp überwuchert. Wie die Leiber der Toten, dachte Nathalie schaudernd. Und auf den Steinen hockten große schwarze Vögel, die beim Nahen der Kutsche mit wildem Kreischen aufflogen. Eine unheilvolle flatternde Wolke verdunkelte für Sekunden den Himmel.
Das stetige sanfte Rumpeln der Kutsche war einschläfernd wie ein Wiegenlied. An dem kleinen Fenster wanderte die Landschaft vorbei. Die Wälder leuchteten in den glutroten Goldfarben des Herbstes. Geraldine, Komteß von Trontheim warf einen Blick auf ihre Begleiterin.
Nathalie hatte die Augen geschlossen. Die langen schwarzen Wimpern warfen gezackte Schatten auf die blassen Wangen.
Wie müde sie aussieht, dachte Geraldine gerührt und mitleidig. Kein Wunder, wir sind ja auch seit drei Tagen unterwegs, und die Betten in den Gasthöfen waren nicht immer komfortabel.
Sie selber fühlte sich nicht müde, im Gegenteil. Hellwach war sie, überwach, voller Spannung und ruheloser Erwartung. Eine Mischung aus Freude und Furcht bedrängte sie.