Im Sommer 1922 begann Trotzki die Arbeit an einem Vorwort zu seinen vorrevolutionären Aufsätzen über Literatur, die der sowjetische Staatsverlag in einem separaten Band seiner Werke herausgeben wollte. Dieses Vorwort, das die Entwicklung der sowjetischen Literatur seit 1917 behandelte, nahm einen immer größeren Umfang an und blieb 1922 unvollendet. Im folgenden Jahr kehrte er zu dieser Arbeit zurück, die schließlich den Titel "Literatur und Revolution" erhielt.
Trotzkis Buch faßt zum einen das marxistische Denken zu Problemen der Kunst zusammen, wie es über ein Dreiviertel Jahrhundert hinweg insbesondere in den Schriften Franz Mehrings, G.W. Plechanows und Antonio Labriolas Gestalt angenommen hatte; zum anderen war es Bestandteil des Kampfs gegen die Bürokratie, die das sowjetische Geistesleben innerhalb der nächsten zehn Jahre erdrosseln sollte. Mit anderen Worten, indem er die wirkliche marxistische Tradition der Literaturkritik in Anwendung auf die damals aktuellen Probleme der Kultur weiterentwickelte, suchte Trotzki der erstickenden Atmosphäre, wie sie die herrschende Gruppe verbreitete, eine Alternative entgegenzustellen. Obwohl sich "Literatur und Revolution" ausdrücklich mit den Ansichten der Futuristen, der Formalisten und des Proletkults auseinandersetzt, beinhaltet doch jede Formulierung gleichzeitig eine Absage an die Engstirnigkeit des selbstzufriedenen Bürokraten.
Dieses Buch entstand in der Periode unmittelbar vor der Gründung der Linken Opposition im Oktober 1923, unmittelbar vor der Eröffnung des offenen Kampfes gegen die wachsende bürokratische Kaste in der Sowjetunion. Die letzten Tage im politischen Leben Lenins; die Verleumdungskampagne der "Triumvirn" - Stalin, Sinowjew und Kamenew - gegen Trotzki; die durch die französische Ruhrbesetzung ausgelöste revolutionäre Krise in Deutschland und das politische Versagen Stalins, Sinowjews und der KPD-Führung, die dort im Herbst 1923 die Nerven verloren - es war eine Periode düsterer, zunehmend tragischer Ereignisse.
1879 als Sohn jüdischer Bauern in der Ukraine geboren, schließt Leo Trotzki sich als Student der marxistischen Bewegung an. Er spielt eine führende Rolle in den Revolutionen von 1905 und 1917. Nach der Oktoberrevolution baut er die Rote Armee auf. 1923 gründet er die Linke Opposition, die den Kampf gegen die bürokratische Entartung der Sowjetunion führt, und 1938 die Vierte Internationale. 1940 wird er im mexikanischen Exil von einem stalinistischen Agenten ermordet.
Vorwort zu dieser Ausgabe
Vorwort Leo Trotzkis
Teil I: Die zeitgenössische Literatur
I. Literatur außerhalb des Oktober
Die Außenseiter - Die Ungestümen - Die Insulaner - Die Rahmabschöpfer - Die Ralliés - Der Mystizismus und die Kanonisierung Rosanows
A. Belyj
II. Die literarischen Weggenossen der Revolution
Nikolaj Kljujew
S. Jessenin
Die Serapionsbrüder - Wsewolod Iwanow - Nikolaj Nikitin
B. Pilnjak
Die Bauerntümler
Verstohlene Richtungsänderung
Die Neo-Klassik
Marietta Schaginjan
III. A. Blok
IV. Der Futurismus
Seine Entstehung - Bruch mit der Vergangenheit - Bestandteile des russischen Futurismus - Theoretisches Suchen und Irrungen - Das Schaffen - Majakowski - Der Ort des Futurismus
Brief des Gen. Gramsci über den italienischen Futurismus
V. Die formalistische Schule der Dichtkunst und der Marxismus
VI. Proletarische Kultur und proletarische Kunst
Was ist proletarische Kultur und ist sie denkbar? - Kulturelle Wege der Bourgeoisie und des Proletariats - Die Diktatur des Proletariats - Kultur und Kulturbetrieb - Was ist proletarische Wissenschaft? - Die Arbeiterdichter und die Arbeiterklasse - Die Deklaration der Schmiede - Kosmismus - Demjan Bednyj
VII. Die Parteipolitik in der Kunst
VIII. Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst
Sozialistische Stagnation oder höchste Dynamik? - Der Realismus der revolutionären Kunst - Die sowjetische Komödie - Die alte und die neue Tragödie - Kunst, Technik und Natur - Die Umschmelzung des Menschen - Gewißheiten und Mutmaßungen
Teil 2: Am Vorabend
I. Zwischen der ersten Revolution und dem Weltkrieg (1908-1914)
Unser Vaterland in der Zeit
Vom Tod und vom Eros
Neujahrsgespräch über die Kunst
Der eklektische Sancho Pansa und sein mystischer Schildknappe Don Quichotte
Aristoteles und der Kirchenkalender
Heißhunger auf Kultur
Der Schönheit des Stils wegen
Das weiße Stierlein und die Kultur
Mereshkowski
1. Der kultivierte Egoist
2. Der Zitierteufel
Über die Intelligenzler
K. Tschukowski
Die Schmähung des Syllogismus
Die Befreiung des Wortes
Die Laientheologen und Wankas Persönlichkeit
Das Schicksal der Zeitschriften
II. Der Westen und wir:
Parallelen und Annäherungen (1908-1914)
Simplicissimus
Sonnenfinsternis
Frank Wedekind
Die Intelligenzler und der Sozialismus
Im Westen (Notizen ohne System)
Die Wiener Secession 1909
Zwei Wiener Ausstellungen im Jahre 1911
Die Secession 1913
Für eine unabhängige revolutionäre Kunst
Personenregister