Ich nahm den Stapel Bücher vom Tisch und ordnete sie wieder in die Regale ein. Ausgerechnet heute, wo ich etwas früher gehen wollte, herrschte in der Stadtbücherei von Brest, in der ich als Bibliothekarin arbeitete, reger Betrieb. Ungeduldig blickte ich auf meine Armbanduhr. Schon Viertel vor fünf! In etwas mehr als einer Stunde würde mich mein Verlobter, Henri de Cavagnac, von zu Hause abholen, um mit mir zum Schloß seiner Eltern zu fahren. Schloß Morgat lag an einem besonders wilden und zerklüfteten Teil der bretonischen Küste. Es war ein romanisches Schloß aus dem 12. Jahrhundert. Ich war noch niemals dort gewesen, aber Henri hatte mir immer wieder verschiedene Fotografien gezeigt, so daß ich es nun schon ganz gut kannte. Stolz und unnahbar stand es auf einer Anhöhe, von der aus die Klippen steil ins Meer abfielen. Das Meer war fast ständig in Aufruhr, so erzählte mir Henri, und in den Sagen und Legenden, die man sich von diesem ungewöhnlichen Landstrich erzählte, hieß es, zu bestimmten Zeiten kann man die Stimmen der Ertrunkenen hören, die um Bestattung bitten. Ein unheimlicher Ort!
Melissa Anderson kennt sich im Liebesroman mit Thrillercharakter aus wie kaum eine andere Schriftstellerin. Dabei fallen auch ihre großartigen atmosphärisch dichten Naturbeschreibungen ins Gewicht. Sie hat für Spannungsreihen wie Irrlicht und Gaslicht bahnbrechende Romane geschrieben, die unter die Haut gingen auch wegen ihrer Kompetenz in dramatischen Fragen. Der schriftstellerischen Entwicklung dieser begabten, begnadeten Autorin hat ihr Umzug in die kanadische Wildnis, wo sie seit vielen Jahren lebt, offensichtlich gut getan. In Kanada ließ sie sich noch einmal neu inspirieren.