Bis heute gilt das Mittelalter als Zeitalter des Glaubens, in dem Menschen, die an der Existenz Gottes zweifelten, systematisch verfolgt wurden. Dorothea Weltecke weist nach, dass diese Annahme ein Mythos ist, der in der Neuzeit entstand. Sie untersucht die Verwendung der Begriffe »Unglauben« und »Zweifel« in den zeitgenössischen Schriften und belegt: Der Gedanke, dass Gott nicht ist, existierte durchaus. Er wurde in der Beichte geäußert und in der spirituellen Literatur beschrieben. Allerdings waren es nicht, wie oft angenommen, vorrangig die Intellektuellen, die an der Existenz Gottes zweifelten. Denn da der Atheismus theologischen und philosophischen Grundannahmen widersprach, nahmen die Gelehrten ihn lange Zeit nicht ernst. Diese beiden Befunde - dass der Unglaube schon im Mittelalter existierte, aber keineswegs eine Sache der Gelehrten war - eröffnen einen gänzlich neuen Blick auf das Mittelalter wie auf die Geschichte des Atheismus.
Dorothea Weltecke, Dr. phil., ist Professorin für die Geschichte der Religionen und des Religiösen an der Universität Konstanz und arbeitet dort im Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration".
Inhalt
Einleitung
Kapitel I: Zur Geschichte der Aufklärung und des Atheismus: Wissenschaftliche Strategien und Topoi der Neuzeit
1. "Atheismus": Neue Kontroversen und neue Geschichten
1.1. Polemik und Enzyklopädie in der Frühen Neuzeit
1.2. Historische Forschungen des 19. Jahrhunderts
2. Experimente mit den Begriffen Atheismus und Unglauben in der historischen Forschung des 20. Jahrhunderts
2.1. "Geschichte des Atheismus und der Aufklärung": Die Großprojekte des 20. Jahrhunderts
2.2. Themen und Tendenzen der Philosophiegeschichte der Nachkriegszeit
2.3. Geschichtswissenschaftliche Positionen: Einheit des Mittelalters und Zeitalter des Glaubens?
2.4. Atheismus, Unglauben - Skepsis, Zweifel: Aktuelle Termini der Forschung
3. Zwischenergebnis
Kapitel II: Zur Ahnengalerie der Atheismus- und Aufklärungsgeschichte
1. Gottlose Herrschaft
1.1. Der Graf Jean von Soissons und die Inkarnation
1.2. Kaiser Friedrich II. und die Offenbarung
1.3. Der englische Bauernaufstand von 1381 und die Suche nach Ursachen
1.4. Kaiserin Barbara von Cilli (+1451) und die Epikureer
2. Gelehrte Ungläubige
2.1. Thomas Scotus, der Averroismus und der Satz von den drei Betrügern
2.2. Polemik gegen Atheisten in Gottesbeweisen?
3. Auch das Volk kann denken: Aude glaubt nicht an die Transsubstantiation
4. Zwischenergebnis
Kapitel III: Auf der Suche nach Konzeptionen des Zweifelns und der Verneinung Gottes
1. Semantische Beobachtungen zu "Unglauben"
1.1. Biblische Termini
1.2. Zum Gebrauch von infidelitas und infidelis im Mittelalter
1.3. Zu "Unglauben" im Deutschen
1.4. Ergebnis: "Ungläubig" ist nicht ungläubig - gegen die historische Operationalisierung von "Unglauben"
2. Semantische Beobachtungen zu "Zweifel" im Mittellateinischen und Mittelhochdeutschen
3. Zur Diskriminationsthese
3.1. Rechtliche Normen
3.2. Dubius in fide infidelis est: Die Verketzerung des Zweifels?
3.3. Abwesenheit von Glauben in Inquisitorenhandbüchern
3.4. Gegenprobe: Das Collyrium fidei von Alvaro Pelayo
3.5. Ergebnis
4. An den Grenzen des Glaubens und darüber hinaus
4.1. Acedia
4.2. "Anfechtung" und "Blasphemie des Herzens": Zweifelnde Einfälle
4.3. "Murmur" und "Impatientia": Protest und Theodizee
4.4. Non est Deus: Sagen, dass es Gott nicht gibt
Schluss
Verzeichnisse
Abbildungen
Abkürzungen
Handschriften
Quellen und Literatur
Vor 1800 entstandene Texte
Nach 1800 entstandene Texte
Dank
Personenregister
Ortsregister