Sie war beschlagnahmt, blieb verschwunden und wurde erst ein Jahrzehnt später wiederaufgespürt: eine unglaubliche Geschichte, eines Kafka oder Borges würdig, in der Realität und Wahnsinn auf immer neue Weise die Rollen tauschen.
Ein bedeutender Wissenschaftler wird in einer sowjet-ukrainischen Provinzstadt wegen Zugehörigkeit zu einer ihm unbekannten Organisation verhaftet. Ihm droht Folter, und er ahnt, dass er das nicht durchhalten wird. Er entwickelt die Idee, vor den NKWD-Offizieren den »Fone Kwas« (ein jiddischer Ausdruck für einen Narren oder »Trottel«) vorzutäuschen, wirre und unglaubliche »Geständnisse« zu machen - in der Hoffnung, schnell verurteilt zu werden, dann aber Berufung einzulegen und zu zeigen, dass alles, was er gestanden hat, technisch und wissenschaftlich vollkommen unhaltbar ist, so dass er schlussendlich wegen »irrtümlicher« Verhaftung entlassen werden wird.
Er setzt sein Vorhaben um. Er erzählt von sagenhaften Sabotageakten, malt wirre Diagramme. Je irrer und bizarrer seine Ausführungen werden, desto gebannter hört sein Ermittler zu und desto erfreuter zeigt er sich.
Und am Ende kommt alles ganz anders, als der Angeklagte erwartet hat. Die wahnsinnige Realität des stalinistischen Terrors wird die fabrizierten Phantasmen des »Fone Kwas« bei Weitem übertreffen.
Georgi Demidov (1908-1987), ein im Gebiet der heutigen Ukraine aufgewachsener und in Charkow arbeitender sowjetischer Elitephysiker, wurde 1938 verhaftet und im dortigen NKWD-Hauptquartier ein halbes Jahr lang verhört. Er überlebte vierzehn Jahre Gulag an der Kolyma und begann, darüber zu schreiben. 1980 beschlagnahmte der KGB all seine Manuskripte. Demidow starb im Glauben, sein gesamtes Lebenswerk sei vernichtet. Erst nach der Perestroika wurden seine Schriften wieder aufgespürt.
Irina Rastorgueva, geboren 1983 in Juschno-Sachalinsk, ist Dozentin, Journalistin und Dramaturgin, sie lebt in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie Das Russlandsimulakrum: Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland und gemeinsam mit Thomas Martin den Band RUSSENBRECHT. Ansichten zum politischen Theater zwischen Stalin und Putin.
Thomas Martin, geboren 1963 in Ost-Berlin, arbeitet als Publizist, Herausgeber und freier Autor in Berlin. Er war u.a. Leiter der Internationalen Brecht-Tage Berlin und Chefdramaturg der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Zuletzt erschienen: Alles ist erlaubt. Das Karamasow-Gesetz. Gemeinsam mit Irina Rastorgueva betreibt er das Medienkunstprojekt MODELL BERLIN.