Deutschland ganz unten, Deutschland ganz oben - und mittendrin: Stuckrad-Barre, mit Stift, Papier und Kamera. Im Jahr 2001 brachte er "Deutsches Theater" heraus, den "Fotoroman einer Gesellschaft, die nur in der Öffentlichkeit und im Rollenspiel noch zu sich selbst zu kommen vermag" (FAZ). Nun erscheint die Fortsetzung: Reportagen, Porträts, Erzählungen, Mono- und Dialoge - ein Sittengemälde unserer Zeit.
Erstaunlich, wo überall Stuckrad-Barre mit Notizblock und Fotoapparat auftaucht, beeindruckend, wie nah er drankommt, erhellend, was er dabei zutage fördert: Mit seinem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung findet er Momente der Wahrheit inmitten von Vorgängen, die genau diese verschleiern sollen. Dabei wechselt sein Blick permanent zwischen außen und innen, so dass nicht nur Erkenntnis über all die anderen Menschen, sondern auch über ihn, den Zuschauer, aufblitzt.
Einen Schwerpunkt bildet diesmal die Politik: Stuckrad-Barre begleitet Michael Naumann, Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Guido Westerwelle im Wahlkampf, beobachtet mit Hans Magnus Enzensberger Kundgebungen in Bayern, besucht das Callcenter eines Umfrageinstituts - und bei Obamas Rede an der Siegessäule steht der Autor natürlich mitten im Gedränge. Er schaut Fernsehen mit Dieter Hildebrandt, mietet sich in Udo Lindenbergs Hotel ein, um dessen Comeback mitzuschreiben; er lässt sich von Herlinde Koelbl fotografieren, von Alexander Kluge filmen, und er versucht, mit Günter Grass zu diskutieren. Er wartet am roten Teppich auf Tom Cruise und am Flughafen auf die Damen von "Sex and the City"; ob Grundsteinlegung der neuen BND-Zentrale oder Hochzeit eines sogenannten Starfriseurs, ob bei Scientology, Google, ver.di, auf dem Autoabwrackhof, in Theater, Kino, Universität oder Fernsehstudio - Stuckrad-Barre ist vor Ort und schreibt mit. Und so entsteht aus vielen Einzelbeobachtungen ein deutscher Klappaltar, aus vielen Texten eine Großerzählung, und wir sehen: Das ist die Zeit, in der wir leben, das sind die Dinge und Personen, die uns bewegen - das sind dann wohl: wir. Beschrieben von Benjamin v. Stuckrad-Barre, dem Chronisten unserer Gegenwart.
Benjamin von Stuckrad-Barre, 1975 in Bremen geboren, ist Autor von 'Soloalbum', 1998, 'Livealbum', 1999, 'Remix', 1999, 'Blackbox', 2000, 'Transkript', 2001, 'Deutsches Theater', 2001, 'Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft - Remix 2', 2004, 'Was.Wir.Wissen', 2005, 'Auch Deutsche unter den Opfern', 2010, 'Panikherz', 2016, 'Nüchtern am Weltnichtrauchertag', 2016, 'Udo Fröhliche', 2016, 'Ich glaub, mir geht's nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen - Remix 3', 2018 und 'Alle sind so ernst geworden' (mit Martin Suter), 2020.